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Nordic Journey Vol. XVI – Germanic Connections
James D. Hicks
Pro Organo 7310
Der US-amerikanische Organist James D. Hicks studierte u. a. am Peabody Conservatory of Music sowie in Yale. Seit nunmehr fast 15 Jahren erforscht er die unglaublich vielfältige Orgellandschaft Nordeuropas und wartet auf den bisher erschienenen 16 Folgen von „Nordic Journey“ – insgesamt 24 CDs – mit vielen Entdeckungen immer hochinteressanter Musik auf. Oft spielte er dabei auf regionalen Orgeln, die mehr oder weniger in direktem Bezug zum eingespielten Repertoire standen. Schon für Folge XV – mit baltischen Komponisten – hatte ihn Dr. Burkhard Schäfer auf die Link/Gaida-Orgel der evangelischen Pauluskirche in Ulm aufmerksam gemacht, und Hicks kehrte nun für Vol. XVI „Germanic Connections“ nochmals an dieses herrliche Instrument zurück. Da der Rezensent als ehemaliges Mitglied der dortigen Gemeinde diese Orgel aus Live-Erfahrung gut kennt, sei schon mal vorweggenommen: Die Aufnahmetechnik hat deren enorme Klangfülle und die Räumlichkeit wirklich optimal eingefangen, sodass diese randvolle Doppel-CD (153 Minuten) schon akustisch ein echter Genuss ist.
Gemäß dem Titel nimmt Hicks hier die Verbindungen zwischen nordeuropäischen Orgelkomponisten – sehr viele haben in Leipzig, Berlin oder Stuttgart studiert – und Deutschland näher unter die Lupe, denn auch umgekehrt besteht oft eine unzweideutige Affinität zu nordischen Kollegen (Grieg…) oder zu skandinavischen oder baltischen Naturlandschaften. Wie immer ist das dargebotene Repertoire vielschichtig. Die vorgestellten Stücke 14 verschiedener Komponisten reichen von anspruchsvollen Orgelchorälen (Fredrik Sixten) über klassische Vorbilder aufgreifende, polyphone Werke – etwa Max Drischners pittoresker „Nordischer Toccata und Fuge“ von 1936 oder Otto Olssons „Präludium & Fuge fis-moll“ op. 52 (1918) – bis hin zu zwei je ca. halbstündigen Großformaten: Kjell Mørk Karlsens „Luthermesse“ (2011) sowie den von Hicks beim Hamburger Organisten Andreas Willscher (Jahrgang 1955) in Auftrag gegebenen „Seven Paintings On German Monuments“. Letztere sind prachtvoll („Die Wartburg“), nachdenklich („Das Niobe-Denkmal“, welches auf Fehmarn an ein Schiffsunglück mit 69 Toten erinnert), oder mal recht naiv („Der Schwarzwald“). Dort hören wir neben einem Kuckuck auch einen Specht – mit einem dafür eigens entwickelten Register. Stilistisch beginnt das bei an Mendelssohn oder Rheinberger orientierter Orgelromantik (Adams Ore) bis zu zeitgenössischer Neoromantik (Andrzej Mikolaj Szadejkos „Preludium, fuga i postludium“ – über „El condor pasa“) oder der Bitonalität in der „Seelenwanderung“ des Mähren Eric Skoczek.
Darüber hinaus kommen im Fall von Sigfrid Karg-Elert (1877–1933) und Väinö Haapalainen (1893–1945) auch Lehrer und Schüler zu Wort. Die beiden stärksten Werke hat Hicks – sicher nicht zufällig – jeweils ans Ende der beiden CDs gestellt: Die 1. Orgelsonate (1897) des erst 19-jährigen Esten Artur Kapp, der noch bei Rimsky-Korsakow studiert hat, und Karg-Elerts „Finale alla Solfeggio“ aus dessen ganz später „Partita Retrospettiva“ op. 151. Nicht nur bei dieser besonders glanzvollen Musik erweist sich der Amerikaner als kluger Registrator und mit Bedacht vorgehender Interpret, der bei aller Virtuosität immer die akustischen Verhältnisse berücksichtigt, dadurch Emotionalität und Klarheit gleichermaßen gewährleistet. Durchgehend überzeugend wirkt, wie er dieser Vielfalt aus über 130 Jahren immer adäquat und empathisch begegnet. Obwohl viele der hier aufgeführten Komponisten selbst eingefleischten Orgelfans vielleicht noch völlig unbekannt sein dürften: eine wirklich beeindruckende musikalische Erfahrung, die meist sofort unter die Haut geht. Nur Hicks‘ ausführlicher Booklettext ist leider nur auf Englisch.
Als Einführung zur CD „Making of Nordic Journey XVI“ gibt es ein 26-minütiges Video: https://vimeo.com/968146217
Martin Blaumeiser (8. November 2024)
Ludwig van Beethoven: Sämtliche Werke für Cello und Klavier, Vol. 1 und 2
Gabriel Schwabe, Nicholas Rimmer
Naxos 8.574529 /8.574530
An hervorragenden, ja ikonischen Aufnahmen von Beethovens Werken für Cello und Klavier, insbesondere seiner fünf Cellosonaten, ist wahrlich kein Mangel. Ein Duo, das diesen Olymp der Gattung heute neu erklimmen will, muss eine klare Vorstellung davon haben, was es „zu sagen“ hat, will es der stattlichen Diskographie nicht einfach eine weitere – und mehr oder minder austauschbare – Aufnahme hinzufügen, über die man schon bald nach ihrer Veröffentlichung nicht mehr spricht. Der Cellist Gabriel Schwabe und sein Klavierpartner Nicholas Rimmer, die vor rund einer Dekade und ebenfalls für Naxos (8.573489) schon die Cellosonaten von Johannes Brahms auf hohem Niveau eingespielt hatten, wussten genau, worauf sie sich einlassen. In einer Mail an mich schrieb Gabriel Schwabe: „Diese Sonaten sind zuallererst ein Dialog auf Augenhöhe zwischen den beiden Instrumenten. Daher ist eine der wesentlichen Herausforderungen das Entwickeln eines gemeinsamen Wegweisers für diese Werke. Nicholas und mir war es in der Vorbereitung sehr wichtig, dem Experimentieren, Diskutieren und gemeinschaftlichen Finden viel Raum zu geben und die Beschäftigung mit dieser Musik über Monate hinweg war für uns individuell und als Duo sehr bereichernd. Das ständige und genaue Hinterfragen der eigenen Lesart hat uns dabei viel an Tiefe gewinnen lassen.“
Die lange Beschäftigung mit Beethovens Musik und das genaue Hinterfragen der eigenen Lesart vermeint man diesen großartigen Interpretationen ablauschen zu können. Denn bei aller Spontaneität und Musizierlust, mit denen Schwabe und Rimmer sich in die Werke stürzen, ist hier jeder Ton durchdacht. Es sei ihnen wichtig gewesen, so Schwabe, mit einem möglichst unverstellten Blick an diese Werke heranzugehen, die an jeder Ecke voller wunderbarer Überraschungen stecken. „Dieses vermeintlich bekannte Repertoire neu zu entdecken, sich darüber wieder wundern zu lernen, ist das, was wir mit unseren Hörern teilen möchten.“
Auch wenn die späteren Sonaten, die auf dem Volume 2 zu hören sind, anspruchsvoller, (noch) tiefsinniger und „beethovenesker“ sind – zur großen Überraschung gerät (in meinen Ohren) das Volume 1, auf dem neben den beiden Sonaten op. 5 Nr. 1 und 2 in F-Dur bzw. g-Moll noch die beiden Variationszyklen „Ein Mädchen oder Weibchen“ und „Bei Männern, welche Liebe fühlen“, beide aus Mozarts „Zauberflöte“, zu hören sind. Denn die Faszination, von der Schwabe im folgenden Zitat spricht, teilt sich dem Hörer unmittelbar mit, obwohl oder gerade weil die beiden Interpreten auf alle Extravaganzen verzichten und die Musik ohne kühlen Klassizismus ganz aus dem Geist der (Mozart‘schen) Klassik heraus spielen: „Mich fasziniert immer wieder, wie viel Frische, Fantasie und Mut zum Experiment in dieser Musik steckt. Man muss bedenken, dass Beethoven mit den beiden Sonaten op. 5 nichts weniger als ein neues Genre begründet hat: die Sonate für Klavier und Violoncello mit zwei gleichberechtigten Partnern. Dass es dafür keine fertige Schablone gab, merkt man auf erfrischende Weise an vielen Details, vor allem aber an der Form: sie ist von Beginn an unkonventionell, Beethoven tobt sich hier abseits der Norm aus – ein Merkmal, das sich wie ein roter Faden auch durch die späteren Sonaten opp. 69 und 102 ziehen wird.“
Man vergleiche die beiden frühen Sonaten, die in ihren Temperamenten (F-Dur versus g-Moll) unterschiedlicher kaum sein könnten – und sich dabei wie „These“ und „Antithese“ zueinander verhalten – mit den beiden späten Sonaten op. 102 Nr. 1 und 2 in C-Dur bzw. D-Dur, die dieses dialektische Spiel auf einer höheren Ebene und mit noch mehr gedanklicher Schärfe gleichsam wiederholen. Die „sehr freie, wie eine Fantasie angelegte und teilweise improvisiert wirkende C-Dur-Sonate“ (Schwabe) trifft auf ein Schwesterwerk in D-Dur, „das sich ganz gegensätzlich verhält mit ihrer Strenge und den markant maskulinen Gesten. Hier wird die Komprimierung der Musik auf die Spitze getrieben, rau-heroische Einfälle folgen auf verträumt singende, ohne jede Überleitung, die Kontraste scharf gegenübergestellt. Als einzige der Cellosonaten besitzt sie einen echten langsamen Satz.“ Ohne übertriebene Ruppigkeit und doch messerscharf analytisch meißeln Schwabe und Rimmer die Kontraste aus der Musik heraus, ohne es dabei im Geringsten an melodischem Fluss und „Belcanto“ fehlen zu lassen. Zum Fanal von Schwabes und Rimmers Lesart gerät ihre „Kunst der Fuge“ im letzten Satz der D-Dur-Sonate. Die „unglaubliche Intensität, Komplexität und harmonische Dichte der Schlussfuge bereitet dem Zyklus einen würdigen, in bester Beethoven-Manier etwas trotzigen Abschluss.“
Haben wir noch etwas vergessen? Ach ja, Beethovens längste und wohl auch berühmteste Cellosonate Nr. 3 in A-Dur, op. 69. Für Schwabe ist sie „die mit dem weitesten Horizont, in der die Phrasen den längsten Atem haben.“ Fast unnötig zu sagen, dass dem Duo auch hier eine bezwingende Lesart gelingt, die sich vor den Referenzeinspielungen (Rostropowitsch-Richter, Fournier-Kempff, Isserlis-Levin, Altstaedt-Lonquich, um nur diese zu nennen) nicht zu verstecken braucht.
Burkhard Schäfer
E. v. Dohnányi / R. Strauss: Violinsonaten etc.
Hellen Weiß, Paul Rivinius
CPO 555 565-2
Die beiden Komponisten Ernst von Dohnányi (1877–1960) und Richard Strauss (1864–1949) verbindet wenig. Dohnányi stammt aus der K. u. K. Donaumonarchie, er studierte an der Budapester Musikakademie, an die er später als Dozent und Direktor zurückkehrte. Johannes Brahms wurde in Dohnányis frühen Jahren zu seinem wichtigsten Förderer. Die ungarische (Volks-)Musik – und die Kammermusik überhaupt – blieben für Dohnányi zeitlebens wichtige Bezugspunkte. Ganz anders Richard Strauss. Seine wenigen Kammermusikwerke, zu denen auch die hier eingespielte Violinsonate in Es-Dur, op. 80, aus dem Jahr 1887 gehört, schrieb er alle zum Abschluss seiner klassizistisch-romantischen Frühphase, bevor er sich der Neudeutschen Schule um Franz Liszt und Richard Wagner zuwandte, deren Musiksprache er bis zum Ende seines Lebens treu blieb.
So ist es kein Wunder, dass auch die beiden je einzigen Beiträge zur Gattung Violinsonate von Dohnányi und Strauss nur wenig Gemeinsamkeiten haben. Und es ist das Verdienst dieser – auch klanglich hervorragenden! – Aufnahme, just diese Sonaten so in einen Dialog miteinander treten zu lassen, dass ihre Charakterunterschiede dabei auf das Schönste herausgearbeitet werden. Die Geigerin Hellen Weiß und ihr (idealer!) Klavierpartner Paul Rivinius tauchen Dohnányis 1912 vollendete Violinsonate, deren drei Sätze attacca aufeinander folgen, in schönstes romantisches Licht. Weiß‘ dunkel-singender und vibrato-satter Geigenton hat die Vortragsbezeichnung „Allegro appassionato“ des Eröffnungssatzes gleichsam verinnerlicht. Die lyrischen und motorischen Momente der Musik werden, ebenfalls in den Folgesätzen, ideal ausponderiert. Auch im zentralen „Allegro ma non tenerezza“ und im finalen „Vivace assai“ finden sich immer wieder Passagen, in der die Musik zur Ruhe kommt, gleichsam nach innen lauscht. Um es einmal so zu formulieren: Weiß und Rivinius schaffen es, den Hörer vergessen zu lassen, dass dieser Sonate im Grund ein langsamer Satz „fehlt“. Die kammermusikalische Intimität (und Intensität) und der Lyrismus sind das Movens dieser völlig in sich stimmigen Darbietung, die ein eindrückliches Zeugnis davon ablegt, dass wir es hier mit einer großen romantischen Violinsonate in der – nie epigonalen – Nachfolge von Johannes Brahms zu tun haben.
Wie oben schon gesagt, fällt die Entstehungszeit von Richard Strauss‘ Violinsonate in seine Frühphase, von der er sich dann abkehrte. Gleichwohl passt hier ein Zitat aus Christian Thielemanns gerade erschienenem Buch „Richard Strauss – Ein Zeitgenosse“ (Verlag C.H. Beck). Thielemann schreibt, dass sich das Dirigieren von Straussens Musik anfühle wie der Landeanflug auf eine Mega-City: „Man sieht nur Stadt, überall sind Lichter, alles glitzert. Man nähert sich und denkt, das kann doch nicht wahr sein, hört dieser Riesenteppich denn nie wieder auf?“ Im Vergleich zu Dohnányis konziser, genuin kammermusikalisch empfundener Sonate in „dunklem“ cis-Moll haben wir es bei Strauss mit einem Werk in „leuchtendem“ Es-Dur zu tun, das in seiner kühlen Virtuosität und seinem konzertanten Gestus nicht selten, vor allem im letzten Satz, den kammermusikalischen Rahmen zu sprengen droht. Den beiden Interpreten gelingt das Kunststück, diese Sonate als ein „Scharnierwerk“ zu deuten, das sowohl nostalgisch auf Strauss‘ klassizistisch-romantische Vergangenheit zurückschaut und dabei gleichzeitig auch schon die glitzernden „Mega-Citys“ der Orchesterwerke in den Blick nimmt, auf die sich der Komponist dann ab 1889 mit seiner „elektrisierenden“ Tondichtung „Don Juan“ zubewegt. Kongenial begreifen und gestalten Weiß und Rivinius die kühlen Oberflächen dieser immer auch auf den Effekt schielenden Musik, die das Artifizielle ihrer genialischen Machart – Thomas Mann nannte Strauss zurecht einen „genialen Kegelbruder“ – weder kaschieren kann noch will. Den romantisch-warmen Gestus der Dohnányi-Sonate haben die Interpreten bei Strauss deutlich heruntergekühlt, was allein schon in dem viel schlankeren und deutlich vibrato-ärmeren Geigenton zum Ausdruck kommt, den Weiß hier anschlägt. Dass das zentrale, „Improvisation“ betitelte „Andante cantabile“ auch außerhalb des Sonaten-Zusammenhangs als Salonstück reüssierte, passt zur Musik – und zu Strauss ganz allgemein. Endgültig zur Hochform laufen die InterpretInnen dann im Finalsatz auf, in welchem Strauss „alle neune“ abräumt, um es, frei nach Thomas Mann, im Kegler-Jargon zu sagen. Da Weiß und Rivinius bei aller Virtuosität aber nie vergessen, selbst kleinste Details liebevoll aus Strauss‘ Violinsonate herauszukitzeln, kommen (auch) Kammermusik-Fans hier voll auf ihre Kosten.
Zum Schluss noch ein Wort zum „zentralen“ Werk des Albums, Dohnányis 1903 vollendete „Serenade für Streichtrio“ in C-Dur, op. 10, das die beiden Sonaten voneinander trennt bzw., je nach Blickwinkel, miteinander verbindet und das zu Dohnányis bekanntesten und am häufigsten eingespielten Werken zählt. Die intensive, hoch inspirierende Darbietung, die Hellen Weiß, Wen Xiao Zheng (Viola) und Gabriel Schwabe (Cello) hier abliefern, zählt zu den besten (mir bekannten) Lesarten dieser mit Allusionen gespickten Serenade, die souverän mit der Gattung spielt und bei aller „freiluftigen“ Leichtigkeit ein „absolut“ konzipiertes Kammer-Werk bleibt. Mir persönlich hätte die direkte Gegenüberstellung der beiden Sonaten besser gefallen, auch wenn das Album dann weniger als 50 Spielminuten lang gewesen wäre. Wer aber vor allem auf die – hier von einer Traumbesetzung dargebotenen – „Serenade“ erpicht ist, wird von dem Trio Weiß, Zheng und Schwabe „absolut“ gut bedient.
Burkhard Schäfer
Johanna Dömötör
Stuttgarter Kammerorchester
ARS 38 373 (SACD)
Eines muss man Johanna Dömötör, der vielfach ausgezeichneten Solistin, Soloflötistin des Sinfonieorchesters Basel und Flötenprofessorin der Bruckneruniversität Linz, lassen: Mut hat sie! Ihr Debüt-Album mit dem Stuttgarter Kammerorchester beweist das eindrücklich. Keine Spur von Anbiederung ans (gefällige) Standard-Repertoire. Im Booklet schreibt die Solistin: „Besonders stolz bin ich, dass dieses Album gleich drei Weltersteinspielungen veröffentlicht. Zwei davon sind eigens neu angefertigte Bearbeitungen für die Besetzung Flöte und Streicher.“ Die beiden zuletzt genannten Werke stammen von Igor Strawinsky („Suite Italienne“ für Flöte, Violine und Streicher, arr. von Adrian Williams und Martin Braun) sowie von Dmitri Schostakowitsch („Fünf Stücke“ für Flöte, Violine und Streicher, arr. von Levon Atovmyan und Martin Braun). Arthur Benjamin, Komponist der dritten Weltersteinspielung, hat in seiner hier zu hörenden „Suite“ diverse Klaviersonatensätze von Domenico Scarlatti für die Besetzung Flöte und Streicher selbst bearbeitet und sich dabei einige Freiheiten erlaubt. Dass ein derart raffiniert gemachtes, überaus kurzweiliges und (klang)farbenfrohes Pasticcio erst jetzt das diskographische Licht der Öffentlichkeit erblickt, will man kaum glauben, zumal es dem Solisten alle Möglichkeiten in die Hände spielt, um zu brillieren. Überhaupt könnte „Stilkopie“ das Motte des Albums lauten – Johanna Dömötör weist im Booklet darauf hin, dass die vier auf dem Album vertretenen Komponisten auch Filmmusik geschrieben haben, ein Genre, das ohne stilistische Aneignung fast nicht zu denken ist –, zumal vor allem auch die „Suite Italienne“ von Strawinsky sich im histori(sti)schen Kostümschrank des Pergolesi-Fälschers Domenico Gallo bedient und mit diesen Versatzstücken einen neoklassizistischen Mummenschanz treibt. Und auch die „Fünf Stücke“ von Dmitri Schostakowitsch, die der turkmenische Komponist Levon Atovmyan mit Billigung Schostakowitschs zu einer Suite zusammenstellte, verweisen schon in ihren Satzbezeichnungen (z.B. „Prelude“, „Gavotte“ oder „Polka“) auf historische Vorbilder, die hier auf eine ebenso unterhaltsame wie ironisch-sarkastische Art und Weise reinszeniert werden. Es spricht für die hohe Kunst und Spielkultur der Solistin, dass sie die Doppel- bis Tripelbödigkeit dieser Werke einerseits punktgenau und quasi messerscharf herausarbeitet – das in jeder Hinsicht geschmeidig und luzide agierende Stuttgarter Kammerorchester entpuppt sich als idealer Begleiter –, und dabei andererseits doch jeden einzelnen Satz der Stücke mit ihrem warmen, nobel-singenden Flötenton adelt. So gut und klug die Solistin diese drei Stiladaptionen auch ausgewählt hat und spielt, zum Höhepunkt gerät (in meinen Ohren) dann doch die einzige Originalkomposition dieses Albums für Flöte: Malcolm Arnolds „Concerto No. 1“ für Flöte und Streicher, op. 45. Arnold schrieb dieses dreisätzige, von „filmreifen Melodien“ (Dömötör) nur so strotzende Konzert, dessen zentraler Andante-Satz zum Schönsten zählt, was die Flötenliteratur hervorgebracht hat, im Jahr 1954 für seinen Studienfreund, den Flötisten Richard Adeney. Auch die Solistin Johanna Dömötör läuft hier vollends zu ihrer Hochform auf. Fazit: Wer Flötenwerke aus dem 20. Jahrhundert abseits des bekannten Repertoires kennenlernen will und dabei keine „Angst“ vor klarer Tonalität, schönen Melodien und stilistischen Vexierspielen hat, wird an diesem – übrigens fantastisch aufgenommenen – Album sicher seine helle Freude haben.
Burkhard Schäfer
Hungarian String Trios
Trio Boccherini
BIS 2107 (SACD)
Zum Programm des vorliegenden Albums heißt es im – sehr lesenswerten! – Booklet-Text: „Diese Aufnahme vereint vier ungarische Komponisten, die jeder auf seine Weise zur Entwicklung einer neuen nationalen Musik beigetragen haben.“ Diese Komponisten sind (aufgezählt in der Reihenfolge, wie sie auf dem Album erklingen): Leó Weiner (1885–1960), László Weiner (1916–1944), Zoltán Kodály (1882–1967) und Ernő Dohnányi bzw. Ernst von Dohnányi (1877–1960). Das älteste und hierzulande sicherlich bekannteste Werk, Dohnányis „Serenade“ in C-Dur, op. 10 (1902), an dem sich das kurze, nur knapp fünf Minuten dauernde „Intermezzo“ (1905) von Kodály orientiert, erklingt am Schluss des Albums. Dass das 2014 gegründete Trio Boccherini – es hat sich nach Luigi Boccherini, einem der Gründungsväter der Gattung Streichtrio, benannt – die Werke nicht chronologisch, sondern quasi paarweise gegenüberstellt (auf den „Weiner-Block“ folgt Kodály/Dohnányi), erweist sich als kluger Schachzug des Ensembles. Bietet es ihm doch die Gelegenheit, das „Ohrenmerk“ auf zwei hierzulande sträflich vernachlässigte Meisterwerke der Gattung Streichtrio zu richten. Leó Weiner schrieb sein Trio noch während des Studiums. Und obwohl es den Hörer mit seiner klaren Tonalität und klassischen Satzabfolge vor nicht allzu große Rezeptionshindernisse stellt, ist es doch ein Meisterwerk, das die „Asymmetrie“ des Genres Streichtrio („nur“ drei Instrumente statt vier wie bei der vermeintlichen Königsdisziplin Streichquartett) ideal ausponderiert. Zum Highlight des Albums gerät allerdings die dreisätzige „Serenade“ von László Weiner. Obschon in dunkler Zeit geschrieben, handelt es sich bei diesem Frühwerk aus der Feder des in einem Arbeitslager der Nazis umgekommenen Komponisten um ein (in weiten Teilen) eher unbeschwertes Trio. Allenfalls das zentrale Adagio, das Herzstück der „Serenade“ (und des ganzen Albums!) lässt auf sehr vornehme, fast schüchterne Art und Weise etwas von der angespannten Weltlage erahnen. Das Trio Boccherini zeigt hier seine ganze (Welt-)Klasse. Das überaus sensitive, dabei hoch expressive und strukturklare Spiel der drei Musiker schließt Weiners Werk gleichsam von innen her auf und beleuchtet dabei auch allerkleinste und -feinste Nuancen. Spätestens nach dieser fulminanten Darbietung ist klar: man darf, man muss László Weiners „Serenade“ neben die ikonischen Werke von z.B. Reger, Schönberg oder Schnittke stellen, die die Gattung Streichtrio im 20. Jahrhundert „definiert“ haben. Auch Kodálys „Intermezzo“ mit seinen „wahrscheinlich authentischen ungarischen Volksmelodien“ (Booklet) gelingt den „Boccherinis“ wie aus einem Guss. Bleibt am Schluss das leuchtende Vor- und Urbild aller ungarischen Streichtrios: Dohnányis „Serenade“ in C-Dur. Obschon von den Musikern nicht minder meisterhaft dargeboten, will das Werk nach den drei vorangegangenen (zumindest in meinen Ohren) nicht mehr so recht „zünden“, was einfach daran liegen mag, dass es trotz seiner rein handwerklichen Meisterschaft im Ganzen vergleichsweise unverbindlich und, ja, auch konventionell klingt. Den Wert dieser wichtigen und großartigen SACD (in allerbestem Sound!) schmälert das aber nicht.
Burkhard Schäfer
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 2 (Fass. 1877)
Gerd Schaller
Hänssler CD PH23085
Das Klassikjahr 2024 steht fraglos ganz im Zeichen des 200. Geburtstags Anton Bruckners, obwohl es einige weitere höchstrangige Jubiläen zu würdigen gilt (100. Todesjahr Ferruccio Busonis, 150. Geburtstag Arnold Schönbergs, 100. Geburtstag Luigi Nonos usw.). So finden sich dann auch Bruckners 11 Symphonien – neben den offiziellen Nr. 1 bis 9 gibt es noch zwei ältere Stücke – einmal mehr auf den Neuerscheinungslisten der Tonträgerindustrie. Mittlerweile ist fast schon Standard, die beiden Frühwerke in Gesamtaufnahmen mit einzubeziehen. Da Bruckner jedoch die meisten seiner Symphonien zum Teil mehrfach umgearbeitet hat, mit durchaus tiefgreifenden Änderungen, interessieren zwei Projekte sicher ganz besonders, die zudem die jeweiligen Erstfassungen den gewissermaßen Versionen „letzter Hand“ vorurteilsfrei gegenüberstellen. Ältere Dirigentengenerationen bedienten sich bis in die 1980er gewohnheitsmäßig auch längst fragwürdig gewordener Mischfassungen.
Neben der gerade in die Endrunde gehenden Gesamtaufnahme von Markus Poschner mit dem ORF RSO Wien bzw. dem Bruckner Orchester Linz (auf Capriccio) hatte Gerd Schaller mit der von ihm gegründeten Philharmonie Festiva bereits 2022 sämtliche Symphonien des oberösterreichischen Meisters in nahezu allen Fassungen bei Hänssler Profil als Box herausgebracht. Die finale Fassung der 2. Symphonie c-Moll von 1877 fehlte jedoch noch und wurde nun in einer Aufnahme von Oktober 2023 aus der Abteikirche Ebrach nachgereicht. Die Unterschiede zur Erstfassung von 1872 liegen bei der „Zweiten“ vor allem in deutlichen Kürzungen. Ob Bruckners „Änderitis“ stets dem eigenen musikalischen Instinkt oder „gutgemeinten“ (?) Ratschlägen von Freunden folgte, ist nicht immer klar. Poschner lässt hier etwa sämtliche Wiederholungen im Scherzo und Trio weg, wie von Bruckner zuletzt vorgeschlagen, was freilich im Widerspruch zur klaren Formgebung aller übrigen Bruckner-Scherzi steht. Gerd Schaller hingegen lässt auch hier die Wiederholungen spielen, obwohl man sich am zugegebenermaßen etwas einfältigen Trio-Thema schnell satthört.
In den Temponahmen unterscheiden sich die Interpretationen von Schaller und Poschner nur unwesentlich. Beide Lesarten stehen eher für einen entschlackten, modernen und klaren Bruckner-Stil, ganz im Gegensatz zu früheren Monumental-Darbietungen – etwa von Karajan oder Barenboim – und meilenweit entfernt von der Zeitlupen-Auffassung Sergiu Celibidaches, welcher neuerdings dessen Schüler Rémy Ballot wieder folgt. Aufnahmetechnisch sind beide gelungen: Musiziert Poschner quasi unter Studio-Bedingungen, muss sich Schaller an die deutlich halligere Akustik eines Kirchenraums anpassen. Ebrach erweist sich hierbei allerdings als wirklich ideal: Schaller kommt damit nicht nur bestens klar, wählt die dafür optimalen Tempi, sondern verleiht den zahlreichen Generalpausen dieser Symphonie geradezu absolute Notwendigkeit. Insgesamt vertrauen er und sein aus offenkundig besonders Bruckner-affinen Mitgliedern deutscher Spitzenorchester bestehender Klangkörper anscheinend noch mehr auf Bruckners Sinn für musikalische Architektur als Poschners Ensembles. Schaller verzichtet auf jedwede Mätzchen und erzielt trotzdem die bombastische Wirkung, der sich Bruckner abseits seiner tragischen Selbstzweifel dann doch bewusst war: Das abschließende „Sehr schnell“ am Ende des Finales gerät so viel zwingender als das meines Erachtens „Zu schnell“ bei Poschner, das sich wie eine verkappte Stretta anhört. Was Durchsichtigkeit, rhythmische Prägnanz und klangschön gestaltete Melodik angeht, lässt Gerd Schaller keine Wünsche offen; und seine Musiker – insbesondere die dynamisch sensationell gut abgestuften Bläser – können mit den besten Aufnahmen dieser Symphonie problemlos mithalten. Dass er in Punkto Dramatik an keiner Stelle versucht, künstlich zu „pushen“, mag nicht jedem gefallen, aber lässt dieser Musik ihre Erhabenheit jenseits aller äußerlichen Effekthascherei. Das ist nicht nur solides und uneitles Musizieren, sondern schlicht edel. Schaller macht mit der Philharmonie Festiva seinem Ruf als Bruckner-Dirigent ersten Ranges erneut alle Ehre.
Martin Blaumeiser [16.02.2024]
Johann Sebastian Bach
Messe in h-Moll BWV 232
Reize Rondeau ROP 405253
Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll BWV 232 gilt vielen Bewunderern seiner Musik wohl als „Opus Magnum“ – vielleicht gerade deshalb, weil er in dieser überkonfessionellen, lateinischen Messe sorgfältig ausgewähltes Material aus mehr als 15 Jahren zusammengetragen hat, teilweise im Parodieverfahren. Dennoch gelingt ihm hier eine geschlossene, formvollendete Komposition, die ihresgleichen sucht. Vom Aufbau her eine „Missa solemnis“, wurde das gut 100-minütige Stück zu Lebzeiten Bachs nie komplett aufgeführt. Heute gehört das Werk freilich zu den Aushängeschildern des Thomanerchors Leipzig, den Bach als Thomaskantor selbst von 1723 bis zu seinem Tod 1750 geleitet hat. Kein Wunder also, dass der seit 2021 amtierende 18. Thomaskantor nach Bach, der 1975 geborene Schweizer Andreas Reize, sich gleich diesen Brocken für sein CD-Debüt an neuer Wirkungsstätte vorgenommen hat.
Jan-Geert Wolf erwähnt schon in seinem knappen, aber aufschlussreichen Booklettext, dass angesichts der weit über hundert Einspielungen dieser Messe jede Neuaufnahme quasi Alleinstellungsmerkmale benötigt und nennt etwa die Einbeziehung der Orgel – die Aufnahmen von November 2022 entstanden selbstverständlich in der Leipziger Thomaskirche – im „Sanctus“, insbesondere aber die bewusst flexible Aufteilung des Thomanerchores je nach den spezifischen musikalischen Erfordernissen der einzelnen „Nummern“: von 16 über 30, 50 bis schließlich zu 90 Sängern. Als Orchester dient einmal mehr das Gewandhausorchester Leipzig, natürlich mit kleiner – 21 Spieler – Streicherbesetzung. Die vom Dirigenten hervorgehobene „historisch-informierte“ Spielpraxis „mit wenig Vibrato und viel Bogenarbeit“ darf allerdings kritisch hinterfragt werden. Im angelsächsischen Sprachraum ist „historisch-informiert“ eigentlich immer mit „historisch“ gleichzusetzen: Man spielt also auf zeitgenössischem Instrumentarium bzw. korrekten Nachbauten und meist in etwas tieferer Stimmung – also a = 415 Hz. Hierzulande heißt dies jedoch, dass auf überwiegend modernen Instrumenten und in „normaler“ Stimmung (a = 443 Hz) gespielt werden darf, so auch in dieser Darbietung. Der 16. Thomaskantor Georg Christoph Biller, der dem Chor bis 2015 lange 23 Jahre vorstand, hatte beides ausprobiert.
Die Mitglieder des immer schon eng mit den Traditionen des Thomanerchores verbundenen Gewandhausorchesters spielen dennoch sehr engagiert. Sowohl beim Knabenchor als auch im Orchester gelingt Reize, der die kontrapunktischen Finessen im Detail ebenso wie die komplette Architektur des ausladenden Stücks absolut präsent zu haben scheint, eine enorm klare, durchsichtige Gestaltung. Der Chor singt sehr souverän, phrasiert hochpräzise, wobei dem Rezensenten manches ein wenig überpointiert erscheint, zum Beispiel die bewusst hart zertrennte Linie des Fugenthemas im „Kyrie eleison“ gleich zu Beginn. Dies wirkt dann schnell zu kleinteilig. Solche Erbsenzählerei ist jedoch seit je Streitpunkt unter den Interpreten und Hörern barocker Musik.
Offensichtlich geschult etwa durch die Ideen eines Joshua Rifkin – der schon Anfang der 1980er Bachsche Chorsätze in einfacher Besetzung aufgeführt hatte – gefallen so bei Reize besonders die intimeren Abschnitte der h-Moll-Messe. Umso größer – auch emotional – dann der Kontrast zu den großbesetzten Teilen, wo mal wieder die drei hellen „Bach“-Trompeten mit ihrer unwiderstehlichen Strahlkraft die positiven Stimmungen unterstreichen. Generell gehört Reize dann aber ganz und gar nicht zu den „Deutern“, sondern hält seine Wiedergabe – durchwegs in sehr zügigen Tempi – anscheinend ganz bewusst neutral. Wer also eine dichte, intensive Überhöhung von Bachs „Bekenntnismusik“ à la John Eliot Gardiner erwartet, wird hier schlichtweg enttäuscht sein. Der neue Thomaskantor verlegt jegliche Wertung des Dargebotenen in die Köpfe der Zuhörer – Geschmackssache. Sehr fein agiert das Sängerensemble, zum Glück nicht aus Gesangsheroen der Oper, sondern aus teils noch recht jungen Stimmen bestehend, die sich speziell im Barock zuhause fühlen. Besonders hervorzuheben die drei Damen (Miriam Feuersinger, Marie Henriette Reinhold und Claude Eichenberger), denen die beiden Herren (Georg Poplutz und Henryk Böhm) jedoch kaum nachstehen.
Insgesamt zeigt Reize, dass er offenkundig sämtliche „technischen“ Hürden dieses Gipfels der Chorliteratur problemlos meistern kann, strukturell alles bestens im Griff hat. Ein wirklich persönliches „Bekenntnis“ lässt diese Einspielung hingegen vermissen – noch mehr „Pflicht“ als „Kür“. Aufnahmetechnisch hat man mit der problematischen Akustik der Lukaskirche zu kämpfen: Der Hall geht o.k., dafür erscheint der Chorklang stellenweise ein wenig wie durch einen Schleier; die Solisten werden klanglich gut integriert. Das Booklet ist äußerst ansprechend aufgemacht, mit guten Infos zu allen Interpreten; die beteiligten Chor- und Orchestermitglieder sind sogar namentlich aufgeführt. Für Beobachter der Entwicklung des Thomanerchors und Fans von Knabenchören allemal eine hochinteressante Neuerscheinung.
Martin Blaumeiser [25.07.2023]
Boris Giltburg
RACHMANINOV Piano Concertos Nos. 1 & 4
Rhapsody on a Theme of Paganini
Naxos 8.574528
Der russischstämmige, in Israel aufgewachsene Boris Giltburg wurde nach dem Sieg 2013 beim prestigeträchtigen Brüsseler Concours Reine Élisabeth schnell von Naxos unter Vertrag genommen und beweist seitdem, dass er zu den seriösesten, dabei technisch wie musikalisch faszinierendsten Pianisten seiner Generation gehört. Dies belegten zuletzt u.a. die Gesamtaufnahmen sämtlicher Sonaten und Konzerte Ludwig van Beethovens. Giltburgs Spiel zeichnet sich durch einen stets durchsichtigen, differenzierten Anschlag sowie eine oft verblüffende Tempokonstanz aus, der trotzdem eine atmende Agogik innewohnt. Vor allem jedoch überzeugen die vollkommene Formdurchdringung und sein Geschick, die den Architekturen innewohnende Emotionalität logisch zu entfalten. Dabei verzichtet der Künstler auf jegliche extravagante Selbstdarstellung, stellt Virtuosität immer ganz in den Dienst der aufgeführten Kompositionen. So ist nach Meinung des Rezensenten ein Vergleich mit dem legendären Swjatoslaw Richter nicht zu hoch gegriffen.
Giltburg verspürt seit frühester Jugend eine unmittelbare Affinität zur Musik Rachmaninows, dessen 150. Geburtstag wir dieses Jahr feiern. Die beiden beliebtesten Klavierkonzerte (Nr. 2 & 3) hatte er bereits 2016 für Naxos eingespielt, wobei leider seine großartige pianistische Leistung durch recht unzulängliche Dirigate von Carlos Miguel Prieto über Gebühr nivelliert wurde. Zum Glück hat man nun das „Team“ ausgetauscht: Auf der neuen 2022er Aufnahme mit den restlichen Werken Rachmaninows für Klavier und Orchester hören wir Brussels Philharmonic unter dem russischen Altmeister Vassily Sinaisky. Da die Gestaltung der schwierigen Orchesterparts bei Rachmaninow viel größeren Einfluss auf das Gesamtbild hat als bei anderen romantischen Konzerten, schlägt dies sofort enorm positiv zu Buche.
Die Klavierkonzerte Nr. 1 & 4 stehen immer noch im Schatten besagter Publikumslieblinge Nr. 2 & 3 – völlig zu Unrecht! Man muss sich klarmachen, dass Rachmaninows Opus 1 von 1890-91 mehrfache, massive Revisionen erfuhr. Die letzte Fassung entstand erst 1919, Jahre selbst nach dem 3. Klavierkonzert. Und dementsprechend steht die Qualität der Komposition den populäreren Konzerten in nichts nach. Ebenso überarbeitete Rachmaninow sein 4. Konzert (1926) mindestens zweimal. Für Kenner ist es vielleicht sogar das erstaunlichste der vier Konzerte, etwa auch, weil es – im Gegensatz zu Nr. 2 & 3 – keine schwachen Momente zeigt. Die Harmonik ist viel schillernder, vieles überrascht (phänomenaler Übergang zur Reprise im Kopfsatz), das Rachmaninow-typische Moll wirkt bisweilen sogar heiter. Die „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ gilt sowieso vielen Kritikern, aber mittlerweile ebenso beim Publikum, als das absolute Meisterwerk des Komponisten.
Bei allen drei Stücken präsentieren sich Pianist und Dirigent in seltener Einigkeit: Der emotionale Aufbau, die großen Entwicklungen und Höhepunkte geschehen derart organisch, dass man sofort ins Schwärmen gerät. Beim ersten Konzert gelingt Giltburg hier sogar eine neue Referenzaufnahme und stößt damit meinen bisherigen Liebling (nur für dieses Stück!), Támás Vásáry, vom Thron. Und den kürzlich veröffentlichten Darbietungen mit Daniil Trifonov unter Yannick Nézet-Séguin sind Giltburg / Sinaisky mindestens ebenbürtig – in allen drei Werken. Die abwechslungsreichen 24 Variationen über Paganinis bekannte, letzte Violin-Caprice, denen das hinzutretende „Dies irae“ schließlich eine unheimliche Note verleiht, charakterisiert Giltburg ganz vortrefflich. Lediglich bei der finalen Variation, die er unüblich ruhig beginnt, bringt er die Holzbläser fast ein wenig ins Stolpern: einziger Kritikpunkt in gut 80 Minuten höchst avancierter Musik.
Fazit: Wer bisher nur Aufnahmen der Klavierkonzerte Nr. 2 & 3 besitzt, sollte bei diesen exzellenten Interpretationen, die aufnahmetechnisch gleichermaßen gelungen sind, sofort zugreifen. Auf nur einer CD findet man die drei Stücke eh‘ selten. Und wer ein echter Rachmaninow-Sammler ist, kommt spätestens jetzt um Boris Giltburg nicht herum: Das hier ist schlicht Weltklasse.
Martin Blaumeiser [29.05.2023]
DAVID STROMBERG, cello
FLORIAN UHLIG, duplex piano
SONATAS for CELLO and DUPLEX PIANO
Oehms OC497
Was den Klavierbau betrifft, hat sich in den letzten 100 Jahren anscheinend fast nichts mehr getan. Seit dem „Bösendorfer Imperial“ mit seinen zusätzlichen 9 Halbtönen im Bassbereich und kleineren technischen Detailverbesserungen des sogenannten Tonhaltepedals durch Steinway sieht man in den Konzertsälen der Welt eigentlich immer die gleichen Flügel, im Wesentlichen dominiert von vier oder fünf Herstellern. Dabei hatte es insbesondere kurz nach 1900 zahlreiche Wünsche gerade von Komponisten gegeben, etwa Vierteltonklaviere oder andere Tastaturlayouts, die auch teilweise realisiert wurden, sich jedoch nie durchsetzten, vor allem wenn damit völlig andere Griffe bzw. Fingersätze nötig wurden. Von Pianisten und Dirigenten wurde zudem eine noch größere Klangfülle gefordert. Neben Versuchen mit passiv mitschwingenden Aliquotsaiten (z. B. Blüthner) geriet dabei eine durchaus vielversprechende Entwicklung des ungarisch-deutschen Komponisten Emanuel Moór (1863-1931) völlig in Vergessenheit: das Duplex-Klavier mit zwei Manualen, die wie beim Cembalo gekoppelt werden können (quasi 4-Fuß).
Moór war als Komponist zu Lebzeiten hochgeschätzt, selbst von Brahms, in dessen – sowie Schumanns – musikalische Fußstapfen er trat. Eine besondere Beziehung entwickelte sich zum Cellisten Pablo Casals. Wegen persönlicher Schicksalsschläge gab Moór um 1918 das Komponieren leider komplett auf und widmete sich ganz der Entwicklung besagten Duplex-Klaviers. Nach der Vorstellung eines selbstgebauten Prototyps konnten schließlich die namhaftesten Firmen – Bösendorfer, Pleyel, Steinway und Bechstein – zur Produktion solcher Instrumente überredet werden, auf denen dann die damalige Gattin Moórs, die Pianistin Winifred Christie, die Erfindung weltweit bewarb. Die Reaktionen von Presse wie Musikern waren überaus positiv, jedoch verhinderte Moórs Tod 1931 eine weitere Verbreitung.
Der Cellist David Stromberg hat sich nun zur Aufgabe gemacht, das Duplex Piano sowie die Kompositionen Moórs wiederzubeleben. Natürlich ist der Titel der CD mit „Sonatas for Cello and Duplex Piano“, die Stromberg zusammen mit dem Pianisten Florian Uhlig eingespielt hat, irreführend, da weder Moórs eigene 1. Sonate von 1890 noch die Gattungsbeiträge von Richard Strauss oder Ernst von Dohnányi in Hinblick auf die speziellen Möglichkeiten des Duplex-Klaviers geschrieben wurden. Bereits bei Moórs musikalisch durchaus wertvollem Stück in c-Moll zeigt sich dafür, welchen klanglichen Gewinn man aus seiner Erfindung ziehen kann: Nicht nur die fast schon orchestrale Klangfülle mit obertonreicheren Bässen gefällt, auch neue Klangfarben lassen aufhorchen. Im Diskant entsteht durch die Oktavkoppelung ein leicht gläserner, weniger metallischer Klang, der gerade in Kombination mit Cello recht angenehm erscheint. Moórs stimmungsmäßig ebenfalls etwas dunkel timbrierte Sonate profitiert dabei spürbar und wird so zu einer doppelten Entdeckung.
Am überzeugendsten wirken auf den Rezensenten mit dem Duplex-Klavier der zweite Satz der Dohnányi-Sonate und der Kopfsatz der frühen Strauss-Sonate. Deren im Gegensatz zu Brahms vorhandener jugendlicher Überschwang könnte hierbei noch stärker akzentuiert werden. Allerdings gelingt Stromberg und Uhlig im elegisch-düsteren Andante eine wirklich bemerkenswerte Darbietung mit enormem Tiefgang und Ernst. Dass dabei die Kopplung der beiden Tastaturen wohl gar nicht benutzt wird, ist dann zur Abwechslung auch wieder schön. Das grandiose Dohnányi-Stück kann man sowieso nicht oft genug hören – eine der faszinierendsten Cellosonaten überhaupt, die den beiden Interpreten besonders zu liegen scheint und in ihrem Facettenreichtum in allen vier Sätzen eine mustergültige Wiedergabe erfährt. Manchmal irritiert bei diesen Kammermusik-Duos der fast wie vierhändig klingende Sound doch ein wenig; die besondere Hörerfahrung ist trotzdem allemal interessant. Als nächstes sollte man aber unbedingt ein paar Klavierkonzerte des frühen 20. Jahrhunderts auf Moórs Duplex Piano einspielen.
Martin Blaumeiser [24.05.2023]
Fukio Quartet
Transcend
Ars Produktion ARS 38 341
Obwohl die Saxophonfamilie in den 1840ern eigentlich für klassische Musik erfunden wurde, haben sich die Instrumente, insbesondere als Formation, bis heute nur klar im Jazz etabliert. Erst danach findet man „echte“ Saxophonquartette – also keine Bearbeitungen etwa von Streichquartetten – für Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxophon. Deren berühmtestes Beispiel, von Alexander Glasunow, entstand nicht vor 1932. Das von Köln aus agierende „Fukio Quartet“ besteht aus vier Spaniern Anfang 30, die seit nunmehr 14 Jahren zusammen musizieren und sich dabei vor allem auf Neue Musik konzentrieren.
Der Hörer sollte sich keinesfalls durch drei in Europa bislang nur wenig gespielten US-amerikanischen Komponisten verschrecken lassen – hierzulande kennt man eher nur den österreichischen Spektralisten Georg Friedrich Haas (*1953). Marc Mellits (*1966) studierte u.a. bei Joseph Schwandter, Christopher Rouse und Roberto Sierra, die man gerne den Neoromantikern zurechnet. In den acht kurzen „Tapas“ – ursprünglich für Streichtrio – spürt man jedoch, dass sich Mellits mehr am amerikanischen Minimalismus und der Rockmusik orientiert. Sehr abwechslungsreich wird der Hörer durch die hochkonzentrierten „Häppchen“ geführt, mal rockig, mal elegisch, mal melodiös. Sofort wird dabei klar, wie sensationell das Fukio Quartet die unterschiedlichsten farblichen Facetten realisiert – differenziert wie klangschön. Nicht nur Technik und Intonation sind absolut perfekt, auch die Charakterisierungskunst der vier Künstler bringt die Dinge sofort auf den Punkt. Atemberaubend die Slapping-Technik in der sechsten Tapa, mit der das Quartett Streicherpizzicati zu simulieren imstande ist.
Caroline Shaw (*1982) ist als Sängerin und Geigerin mit dem Rapper Kanye West aufgetreten, erhielt schon 2013 als bisher jüngste Komponistin den Pulitzer-Preis. Ihr Streichquartettstück „Entr’acte“ (2011), das unmittelbar an konkrete Modelle bei Haydn und Beethoven anknüpft, hat das Fukio Quartet genial transkribiert. Die weichen, dynamisch zurückhaltend, zugleich intensiv präsentierten, auch immer wieder mal himmlisch verfremdeten Farben wirken derart berückend, dass der Hörer fast automatisch die Augen schließen und nur noch lauschen möchte – insgesamt eher wie eine zögerliche Brahms-Serenade denn eine Reinkarnation der Wiener Klassik. Obwohl unverhohlene Postmoderne, hat das echten Tiefgang.
Haas‘ Saxophonquartett (2014) hingegen ist eine Originalkomposition. Knapp sieben der 10½ Minuten begegnen wir rhythmisch einem völlig gleichbleibenden Impuls. Damit das nicht fade wird, bekommen die übrigen Parameter natürlich eine umso größere Bedeutung, namentlich Dynamik sowie die minutiös ausgearbeitete Mikrotonalität, die von feinsten Schwebungen zwischen zwei Instrumenten bis zu den typischen sich spektral komplex auffächernden Akkorden reicht. Wie das Ensemble die bis auf Zwölftelton-Ebene genau notierten Intervalle realisiert, ist schlicht unglaublich. Ab der 7. Minute erscheinen dann schiffshupenartige Einwürfe, teilweise mit eigentümlich verstörenden Multiphonics; leider nicht Haas‘ stärkste Komposition.
Auf ganz anderem Niveau zum Glück die „Fantasy Etudes“ von William Albright (1944-1998): In jeder der sechs anspruchsvollen Kompositionen – plus Prelude – gibt es die Aufgabe, das Saxophonquartett wie ganz andere Instrumente klingen zu lassen. Am offensichtlichsten in No. 2 („Pypes“), wo man nichts anderes als Dudelsäcke zu vernehmen glaubt. Aber es gibt ebenso Stellen, wo sich die vier Spanier in überragender Weise archaischen Flöten- oder Orgelklängen (No. 5) annähern. Und auch die unmittelbare Gegenüberstellung von Pferdegewieher und Dampfloksignalen (No. 4 „Phantom Galop“) ist einfach köstlich: Western im Miniformat. Gleichzeitig entfaltet Albrights intelligente, phantasievolle Musik immer Sinnhaftigkeit. Das Fukio Quartet jedenfalls erweist sich auf diesem spannenden Album als absoluter Herrscher über die Klangfarben, deren Möglichkeiten mit vier Saxophonen geradezu unbegrenzt erscheinen – faszinierend!
Martin Blaumeiser [25.11.2022]
Luigi Cherubini: The Cracovian Album
Andrea Chudak
Thorofon CTH26732
Für Beethoven war Luigi Cherubini einer der Größten. Seine Verehrung ging so weit, dass er sich dessen c-Moll-Requiem als Musik zum eigenen Begräbnis wünschte. Einfluss hatte der 1760 in Florenz geborene Italiener, der nach Anfangserfolgen in der Heimat 1788 nach Paris gezogen und in der Nachfolge von Gluck zu einer der dominierenden Persönlichkeiten des französischen Musiklebens aufgestiegen war, auch auf andere Komponisten - selbst Wagner hielt viel von ihm. Nach Cherubinis Tod aber verblasste sein Ruhm. Nur die einst überaus populäre Rettungsoper „Les deux journées“ und vor allem „Médée“, die Maria Callas zu neuem Glanz führte, hielten sich regelmäßig im Repertoire. Mittlerweile aber werden sukzessive weitere seiner 30 Bühnenwerke wiederentdeckt, ebenso Kammer- und Sakralmusiken. Das Liedschaffen allerdings fand bisher kaum Beachtung. Eine lohnende Aufgabe für die Sopranistin Andrea Chudak, die sich als forschende Sängerin mit besonderer Leidenschaft für Giacomo Meyerbeer einen Namen gemacht hat. Im Zuge ihrer Beschäftigung mit dessen Vokalmusik, die sich in mehreren CD-Projekten niederschlug, wurde sie auf Cherubini aufmerksam. Erstes Ergebnis ist die Anthologie „The Cracovian Album“ mit lauter Weltpremieren, für deren Verwirklichung sie sich den Musikwissenschaftler Michael Pauser und die Internationale Cherubini-Gesellschaft zur stilistischen Beratung mit ins Boot holte. Sie enthält eine vom Komponisten selbst zusammengestellte Kollektion von 25 Liedern für 1 – 3 Frauenstimmen, die aus seinem privaten Nachlass erst in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt und nach dem zweiten Weltkrieg ins Archiv der Krakauer Biblioteka Jagiellonska- daher der Name -übernommen wurde. Die zwischen 1782 und 1834 entstandenen achtzehn Soli, fünf Duette und zwei Trios repräsentieren sowohl italienische wie auch französische Formen, darunter Canzonette und Ottave - eine Art von Strophengesängen -, Romances und Chansons. Vom revolutionären Geist und dramatischen Furor, der Cherubinis Opernschaffen durchzieht, spürt man in diesen Liedern freilich wenig. Es handelt sich in der Mehrzahl um gefällige Melodien ohne komplexe stimmliche Anforderungen, prädestiniert für Haus- und Salonmusik. Diesen Rahmen untermauern die Fotos im vorzüglich recherchierten Booklet – nur fehlen leider deutsche Übersetzungen der Liedtexte -, die die Künstlerinnen in historischen Roben und Räumen zeigen. Musikalisches Pläsier bereiten insbesondere die Ensembles, in denen sich die Stimmen von Andrea Chudak, der Altistin Irene Schneider und – in den Terzetten - der Mezzosopranistin Yuri Mizobuchi in harmonischem Gleichklang vereinen. Die Soli bestreitet die Sopranistin im Alleingang. Was der Grund dafür sein mag, dass es neben Gelungenem, wie der Romance „Le mystère“ als schönes Beispiel für fließenden Legatogesang oder der Ottava „Ella dinanzi al petto“ für geschmackvolle Verzierungen, auch manches Stück gibt, dem mehr Feinschliff und weniger Einschichtigkeit guttäte. Gerade eine ausgedehnte vielstrophige Romance wie „Dors, mon enfant“ oder das zwölfminütige Duett “Solitario bosco ombroso“ könnten in Dynamik und Ausdruck variabler und fantasievoller gestaltet sein. Yuki Inagawa am Klavier und Anne Bussewitz am Cembalo drängen sich nicht in den Vordergrund, sondern sorgen für diskrete, feinfühlige Begleitung. Hinzu kommt in einigen Musiknummern die obligate Violine, von Liv Migdal mit Eleganz gespielt: sie verleiht dieser Cherubini-Soiree eine festliche Note.
Karin Coper
Gunter Herbig
Arvo Pärt: Wherever I go ...
Aldilà ARCD 021
Egal, wie unwissenschaftlich, intransparent oder schnell mal mit der heißen Nadel gestrickt aktuelle Umfragen bezüglich der meistgespielten, lebenden klassischen Komponisten auch sein mögen – einen Namen wird man immer weit oben auf solchen Listen finden: den Esten Arvo Pärt (*1935). Nach seinen Studien bei Veljo Tormis und Heino Eller – dem Ziehvater einer ganzen Generation estnischer Komponistentalente – beschäftigte er sich zunächst mit Zwölftontechnik und Serialismus, wandte sich aber bald radikal davon ab und entwickelte in den 1970ern eine Technik, die dann als „Tintinnabuli“ (von lat. „Glöckchenspiel“) bekannt wurde. Sie beruht auf seinen Erfahrungen mit früher Vokalmusik – von der Gregorianik bis zur Vokalpolyphonie des Mittelalters – und konzentriert sich auf ganz elementare Verbindungen von Tönen eines Dreiklangs mit diatonischen Skalen, ist dadurch extrem minimalistisch, weshalb Pärts Musik zur „Neuen Einfachheit“ gerechnet wird.
Pärts Tintinnabuli-Stil kommt bereits bei Vokalmusik a cappella voll zur Geltung. Naturgemäß gerät bei dieser konsequent simpel gehaltenen Musik jedoch die Bedeutung von Instrumentation oder Klangfarbe völlig in den Hintergrund. Im reinen Notentext („Musik muss durch sich selbst existieren“) sieht der Komponist bereits das große Geheimnis begründet. Andererseits hat dies zur Folge, dass viele von Pärts Stücken in fast schon unzähligen – etwa im Falle von „Fratres“ – Bearbeitungen für verschiedenste Besetzungen existieren; teils Arrangements von Pärt selbst wie auch diverser Interpreten seiner Musik.
Der in Brasilien geborene, in Deutschland und Portugal aufgewachsene und heute in Neuseeland lebende Gitarrist Gunter Herbig – natürlich nicht zu verwechseln mit dem Dirigenten Günther Herbig – favorisiert seit längerem schon die E-Gitarre mit ihren besonderen Möglichkeiten der Beeinflussung des Klanges nach dem eigentlichen Anschlagen der Saiten. Im vorigen Jahr veröffentlichte er so eine vielbeachtete CD („Tristorosa“) mit Musik des Brasilianers Heitor Villa-Lobos auf dem Aldilà-Label.
Dagegen sind seine Pärt-Bearbeitungen absolute „bare bones“. Mit seiner Gretsch White Falcon produziert Herbig eine Stunde lang weitgehend Schönklang – selbst da, wo die Gitarre „präpariert“ eingesetzt wird, worüber man gerne Näheres erfahren würde. Tatsächlich wirkt das Instrumentarium derart natürlich und direkt, dass der Hörer komplett vergisst, dass hier zumindest immer noch Verstärkung im Spiel ist. Herbig gelingen so eindringlichste, pure Meditationen, die Pärts radikale Einfachheit oft noch ungeahnt überhöhen – durch die teils extrem in die Breite gezogenen Tempi (etwa in „Da pacem Domine“ oder „Pari Intervallo“) bis an die Grenze des Erträglichen. Die ausgewählten Stücke gehören zu Pärts erfolgreichsten und meistgespielten: So darf natürlich „Für Alina“, die Initialzündung der Tintinnabuli-Musik, „Magnificat“ und auch „Fratres“ nicht fehlen; letztere Bearbeitung kann jedoch auf einem einzelnen Instrument nicht wirklich überzeugen.
Interessant, dass Pärt bereits 1963 – also mehr als ein Jahrzehnt vor Tintinnabuli – mit „Solfeggio“, einer asketischen Beschäftigung mit sich überlappenden C-Dur-Tonleitern, seine spätere Selbstfindung quasi schon vorwegnimmt. Und Herbigs Adaptionen der übrigen Werke sind mehr als gelungen: Die gesamte Darbietung mit ihrer kompromisslosen Intimität, die dabei jedoch völlig von der Persönlichkeit des Interpreten weg und direkt zum Kern von Pärts Musik führt, geht zu Herzen. Selbst beim Rezensenten – der jeglicher Form von Meditation eher ablehnend gegenübersteht – stellte sich über weite Strecken so etwas wie echte Rührung ein, obwohl er normalerweise der New York School (John Cage, Morton Feldman, Christian Wolff…) wesentlich offener begegnet als Arvo Pärt. Für Pärt-Neulinge ist Herbigs totale Versenkung vielleicht eine Spur zu stark, für Liebhaber seiner Musik jedoch sicher eine zutiefst befriedigende (Selbst)-Erfahrung.
Martin Blaumeiser, 3.8.2022
Juan Carlos Fernández-Nieto
Iberian Dances
Ibs Classical IBS 262021
Der gebürtige Spanier Juan Carlos Fernández-Nieto lebt mittlerweile in den USA, wo er u.a. bei Boris Berman studierte. Auf seinem neuen Album »Iberian Dances« vereint er Klaviermusik, die auf folkloristischen Einflüssen bestimmter Regionen aufbaut und damit durchaus nationale Identitäten zu untermauern versteht. Dabei beschränkt sich – anders, als der Titel vermuten lässt – seine Auswahl nicht nur auf die iberische Halbinsel, sondern führt den Hörer zunächst in den Kaukasus.
So beginnt das Programm mit einem Stück, das als echter Virtuosenkracher geradezu verschrien ist, aber dessen musikalische Qualitäten daher vom Publikum wie – manchen – Interpreten leider unterschätzt werden: Milij Balakirews »Islamey«. Die – vor allem wegen ihrer halsbrecherischen, komplex in eine oft dichte Faktur eingewebten Repetitionen – berüchtigte Tour de Force galt lange als eines der technisch anspruchsvollsten Klavierwerke des 19. Jahrhunderts überhaupt; erst 1908 wollte Ravel es mit seinem »Scarbo« explizit überbieten. Abgesehen von der an Liszt orientierten, puren Virtuosität – da bleibt Evgeny Kissin live unerreicht – kann ein sensibler Interpret hier mit differenzierter Dynamik und Artikulation das orientalische Kolorit glänzen lassen wie durch ein Kaleidoskop aus Edelsteinen. Fernández-Nieto schafft dies grandios; er übertrifft hier sogar Größen wie Boris Berezovsky oder Lang Lang, die das Stück vom Tempo her zu statisch angehen und klanglich über Strecken monochrom bleiben. Und dramaturgisch hält er geschickt die Spannung aufrecht – bis zum Schluss, wo andere Darbietungen längst ermüdend wirken. Ob dies, wie auf der Webseite des Künstlers zu lesen, in der Tat die erste Aufnahme des Werkes durch einen Spanier ist, sei einmal dahingestellt.
In gleicher Qualität hören wir mit der Lezginka – Nr. 10 aus den 12 transzendentalen Etüden – von Balakirews Schüler Sergei Ljapunow einen weiteren kaukasischen Tanz; der gesamte Zyklus sollte öfter gespielt werden. Wohl durch einen längeren Studienaufenthalt in Tiflis kam der Pianist auf den georgischen Komponisten Alexandre [Alexi] Matchavariani (1913-1995), hier mit zwei eher kurzen Beiträgen vertreten, die hübsch, jedoch zumindest pianistisch wenig originell sind.
Ganz anders ist dies beim wohl bedeutendsten spanischen Klavierkomponisten seiner Generation, Isaac Albéniz, dessen achtsätzige Suite Española Nr. 1 von 1887 allerdings erst nachträglich so zusammengestellt wurde. Mithin dürfen die bestimmten Regionen bzw. Städten gewidmeten Stücktitel nicht dazu verleiten, deren Musik tatsächlich genau dort zu verorten. So ist z.B. die bekannteste Nummer, »Asturias« (Leyenda), astreiner andalusischer Flamenco. Fernández-Nieto lässt sich auch bei dieser erneuten Repetitionsorgie, die Gitarrenklänge genial aufs Klavier überträgt, nicht zu oberflächlichem Genudel hinreißen. Er wählt ein keinesfalls rekordverdächtiges Tempo, gestaltet dafür jede Phrase höchst nuanciert. Das gilt umso mehr für den Rest der Suite, der agogisch immer durchdacht und mit entzückender Farbigkeit erklingt. Dieses Niveau, mit deutlich sprechender Kantabilität und weit entfernt von sentimentaler, falsch verstandener Romantik, erreichen bei Albéniz nur ganz wenige Pianisten. Verglichen mit der Aufnahme Alicia de Larrochas von 1986 (Decca) fehlt dem spanischen Kollegen stellenweise noch die letzte Ruhe – etwa in »Granada«. Dafür ist seine Pedalbehandlung enorm bewusst, was die Länge der Bassnoten angeht: Durchsichtigkeit bleibt unbedingt erhalten, gleichzeitig entsteht eine optimale Hüllkurve für die Harmonik. Kantilenen im Doppeloktav-Abstand (Mittelteile von »Sevilla« und »Asturias«) gelingen Fernández-Nieto visionärer und wirklich die Idee von Landschaften evozierend. Die raschen Themen in »Aragon« und »Castilla« erscheinen frischer, obwohl hier de Larrocha die schnelleren Tempi nimmt. Die subtile klangliche Durchdringung des gesamten Zyklus ist schlicht Weltklasse.
Nur unverzeihlich, dass das Booklet über den Pianisten kein Wort verliert. Abgesehen von einigen kurzen Saint-Saëns-Beiträgen, die vom Klavier-Festival Ruhr 2018 überliefert sind und einer bemerkenswerten Schumann-CD auf dem Odradek-Label ist dies ja erst der dritte Tonträger-Auftritt des Künstlers. Auf Youtube findet man eine hinreißende Darbietung des 2. Rachmaninow-Konzerts vom Finale des Santander-Klavierwettbewerbs. Zum Beweis von Fernández-Nietos enormer künstlerischer Reife reicht freilich das vorliegende – zudem aufnahmetechnisch tadellose – Album völlig aus. Man darf nur hoffen, dass daraus bald mehr wird als nur ein Geheimtipp.
Martin Blaumeiser, 11.03.2022
Meyerbeer:Vocal
Vokale Kammermusik und Sakralmusik für Solostimmen
Antes BM149010
Die in Berlin ansässige Meyerbeer-Gesellschaft, die seit 2020 besteht, hat das Ziel, das Oeuvre des Komponisten unter internationaler Beteiligung zu erforschen und zu verbreiten. Darin ist die Sopranistin Andrea Chudak, Mitbegründerin und zeitweise auch Vorstandsmitglied, eine Vorreiterin. Schon seit Jahren engagiert sie sich leidenschaftlich für den kosmopolitischen Tonschöpfer, der die »Grand Opera« zur Blüte brachte. Ihr persönliches Interesse aber gilt der Erkundung der kleinen Form. Drei Alben mit Preziosen hat sie bisher in Eigenregie eingespielt, in Doppelfunktion als Produzentin und Interpretin. Für ihre aktuelle Doppel-CD »Meyerbeer:Vocal: Vokale Kammermusik und Sakralmusik für Solostimmen« suchte sie den Austausch mit Spezialisten aus der ganzen Welt. Herausgekommen ist eine Fundgrube an Raritäten und Ersteinspielungen, von Gesängen in unterschiedlichster Besetzung und Form, darunter sogar Miniaturen, die nur eine halbe Minute dauern.
Die chronologisch angeordneten Musiknummern, die zwischen 1809 und 1860 entstanden, bieten jede Menge Abwechslung. Auf den Zyklus »Sei Canzonette« aus Meyerbeers italienischer Phase, der in der Tradition des frühen Belcantos steht, schließt sich eine vierstimmige »Hymne an Gott« an, dann das Frauenduett »La Mére Grand«. Dies ist ein köstliches französisches Salonstück, dem noch ein ähnliches folgt: »Le Ranz des Vaches d’Appenzell«, eine Pastorale mit Jodeleinlage, die Andrea Chudak und die Mezzosopranistin Dorothe Ingenfeld für einen humorvollen, im Zusammenklang homogenen musikalischen Dialog nutzen. In der deutschen Romantik wurzeln zwei von Martin Netter empfindsam vorgetragene Lieder für Tenor und Klavier, das eine mit obligater Klarinetten-, das andere mit Cellobegleitung. Der Kanon »Des Dichters Wahlspruch« und die Szene »Der Wanderer und die Geister an Beethovens Grabe« für Solobass und Frauensextett sind weitere Beispiele für die kompositorische Vielfalt. Sie trifft auch auf die sakralen Stücke zu, die der aufklärerische Meyerbeer sowohl für jüdische wie christliche Gottesdienste komponierte. Darunter sind eine Psalm-Vertonung, »Sieben geistliche Gesänge«, »Zwei religiöse Gedichte« und eine »Jüdische Liturgie«, teils mit Orgelbegleitung, teils a-capella.
Andrea Chudak hat für dieses Projekt eine Reihe von Gesangskolleginnen und -kollegen gewonnen, dazu die Pianistin Yuki Inagawa und den Organisten Oliver Vogt als Begleitung. Sie bilden zusammen eine hoch motivierte, in den Ensemble-Sätzen gut aufeinander abgestimmte Truppe. Die Hauptakteurin aber ist die Sopranistin selber. Wie sie die vokal diversen Anforderungen bewältigt, stimmliche Flexibilität, Agilität in den Koloraturen und Geschmeidigkeit im Kantabile beweist, das fordert Respekt ab. Dass bei ihr auch angestrengte Passagen zu konstatieren sind und bei den anderen Mitwirkenden nicht jeder Ton sitzt oder die Intonation nicht immer sauber ist, fällt angesichts des positiven Gesamteindrucks kaum ins Gewicht.
Andrea Chudaks Meyerbeer-Begeisterung spiegelt sich nicht zuletzt im liebevoll gestalteten, editorisch sorgfältigen Booklet wider. Zu jedem Musikstück gibt es eine kleine Einführung samt Textabdruck, dazwischen sind bunte Illustrationen eingestreut, besonders hübsch die von Mitwirkenden in historischer Kleidung. Gegenwärtig plant die Künstlerin bereits eine weitere Kollektion. Sie wird diesmal nicht von Meyerbeer sein, sondern von Luigi Cherubini: Titel »The cracovian album«.
Karin Coper
Ana Topalovic
Bachiana - A Solo Cello Fantasy
hänssler
HC21007
Die Kombination von J. S. Bachs Solo-Suiten für Cello bzw. Sonaten & Partiten für Violine – zweifellos Meilensteine der Musikgeschichte sowie Visitenkarten instrumentalen Könnens – mit zeitgenössischen Solostücken nimmt nach Meinung des Rezensenten derzeit überhand. Leicht kommt da der Verdacht auf, man traue sich nicht, aufgeschlossenen Interpreten ein rein modernes Album zu gönnen, um dann in der Hoffnung auf leichtere Vermarktung teils vage Verbindungen zu Bach zu konstruieren. Sicher gibt es gelungene Kopplungen: etwa Violeta Viccis Violinalbum „Mirror Images“ (Aldilà) oder Katharina Desernos Gegenüberstellung zweier Bach-Cellosuiten mit klar darauf bezugnehmenden Zyklen von Violeta Dinescu (Kaleidos). Schon bei Ilya Gringolts letzter Solo-CD (BIS) darf man die direkte, satzweise Verzahnung von Brice Pausets „Kontrapartita“ mit den jeweiligen Bachschen Vorbildern – was hier klar auf Kosten Pausets geht – durchaus kritisieren.
Die am Wiener Richard-Wagner-Konservatorium lehrende, serbische Cellistin Ana Topalovic begründet den CD-Titel „Bachiana“ nun mit ihrer visuell synästhetischen Wahrnehmung und den sich aus dieser besonders privilegierten, aber freilich für den „Normalo“ überhaupt nicht nachvollziehbaren Sichtweise ergebenden Verbindungen von fünf ganz neuen Werken für Cello solo zu den individuellen Sätzen von Bachs Suite Nr. 1 G-Dur, BWV 1007. Praktisch, dass die dann genau zwischen die sechs Sätze der Suite passen. Im Booklet werden leider nur Topalovics – fraglos sehr hübsche – Illustrationen zu den zeitgenössischen Stücken ausschließlich weiblicher Komponistinnen gezeigt. Ob es da überhaupt ernsthaft diskutable „musikalische“ Beziehungen gibt, bleibt hingegen der Intuition des Hörers überlassen.
Die neuen Stücke sind recht abwechslungsreich und ermöglichen es Topalovic, ihr enorm facettenreiches Cellospiel auf vielfältigste Weise zu präsentieren: Johanna Doderers (*1969) „Violoncello Solo 2“ (2011) findet von klaren emotionalen, gesanglichen Gesten zu quasi „pseudo-bachschen“ Figurationen – deutlich überzeugender als die allzu offensichtlich tonalen Orchesterwerke der Österreicherin. Wesentlich interessanter dann allerdings „Umbre III“ für Cello & Tonband (2003) der Rumänin Doina Rotaru (*1951). Die nur leicht elektronisch verfremdeten Klänge vom Band – neben Celli auch einige asiatische Instrumente – mischen sich zwingend mit dem überaus flexibel agierenden Solocello und erzählen eine wirklich spannende Geschichte, die mal vom Licht in die Dunkelheit führt, und nicht umgekehrt. Gabriele Proy (*1965), ebenfalls Österreicherin, lässt sich in ihrer Musik meist von Naturphänomenen inspirieren, so wie den Lichtbrechungen in „Diamant“ (2018). Ein wiederkehrendes, sehr plastisches Kopfmotiv bahnt sich bald den Weg zu ein wenig etüdenhaft wirkenden Arpeggio-Klängen, deren sich stetig, jedoch sehr langsam verändernde Dynamik enorme Konzentration vom Spieler fordert, was Ana Topalovic mühelos bewältigt.
Kaija Saariaho (*1952) ist längst die Grande Dame der finnischen Musik; kaum verwunderlich, dass ihre „Sept Papillons“ aus dem Jahre 2000 – zusammen gerade mal 11 Minuten lang – bereits jetzt zu echten Klassikern der Literatur für Cello solo geworden sind. Hier muss sich Topalovic natürlich mit mindestens sechs Konkurrenzaufnahmen messen. Dabei meistert sie die schwierigsten, oft zweistimmigen Klangstudien, die Saariaho jeweils nachts komponiert hat, um vom täglichen Probenstress der Salzburger Uraufführung ihrer ersten Oper „L’amour de loin“ herunterzukommen, durchaus auf dem Niveau des Widmungsträgers Anssi Karttunen; der Höhepunkt dieser CD. Gefallen kann die Cellistin schließlich auch mit ihren eigenen „Reflections“ (2013), in denen sie zusätzlich die eigene Stimme einsetzt – übrigens nicht nur als Vokalisen; möglicherweise vorkommende Textfragmente sind aber für den Hörer nicht zu entschlüsseln. Das sehnsuchtsvoll, nostalgisch beginnende Stück endet in einem veritablen, folkloristisch angehauchten Tänzchen.
Da die über eine volle Stunde verteilten sechs Sätze der Bach-Suite so eher zur Rahmenfunktion degradiert werden, sei dem Hörer dringend geraten, sich zunächst mal eine Playlist nur damit zu erstellen. Topalovic gelingt hier eine ernstzunehmende Darbietung, die dennoch wenig aus dem immensen Angebot herausragt, kein wirklich persönliches Statement erkennen lässt. Verglichen mit obiger Einspielung von Deserno, ähneln sich nicht nur die Tempi sehr, sondern die erstaunliche Tempokonstanz ermüdet stellenweise ebenso. Klanglich spielt Topalovic gleichermaßen differenziert wie in der Neuen Musik. Auffallend ist eine ganz außergewöhnliche Fähigkeit, durch präzise Positionierung des Bogens nicht nur den Klang der Saiten zu modifizieren, sondern auch die Resonanzen innerhalb des Cellos, was sie gerade bei Wiederholungen gezielt einsetzt. Der absolut perfekten Aufnahmetechnik muss man danken, dass dies genauestens eingefangen wurde – akustisch ein Leckerbissen.
Trotzdem: „Bachiana“ ist mit gerade mal einem Drittel Bach fast schon eine Mogelpackung. Der Rezensent hätte sich stattdessen noch mehr aktuelles Repertoire gewünscht, zu dem Ana Topalovic ohne jeden Zweifel einen exzellenten Zugang hat. Und selbst ihre neueren Eigenkompositionen mit Live-Elektronik hätten nach dem ersten, positiven Eindruck hier mein Interesse geweckt.
Martin Blaumeiser, 16.01.2022
Krzysztof Meisinger
Elogio de la Guitarra
Chandos
CHAN 20225
Wahrscheinlich haben es Konzertgitarristen im heutigen Klassikbetrieb noch schwerer als die Pianistenzunft. Der Aufstieg zum Weltstar wird ja mittlerweile mehr durch Auftritte mit namhaften Orchestern als durch Solo-Recitals bestimmt; und da ist das Repertoire für Gitarre halt viel schmaler. Und mit Solo-Gitarrenabenden lassen sich die ganz großen Säle kaum füllen – schon rein akustisch. Wie gut jedoch grundsätzlich beide Seiten der Musik für Gitarre allein – das Intime wie auch die ganz nach außen gerichtete Geste – miteinander harmonieren können, zeigt die neue CD des polnischen Gitarristen Krzysztof Meisinger. Der Enddreißiger ist längst ein Star der Szene, hat mit bekannten Orchestern wie der Academy of St Martin in the Fields und in der Berliner Philharmonie gespielt. Auf dem ersten, randvollen Album beim renommierten Chandos-Label hören wir ein Programm, das in der spanischen Gitarrentradition verwurzelt ist: Musik von Rodrigo, Llobet, dem Italiener Castelnuovo-Tedesco und schließlich vom Argentinier Piazzolla.
Der im frühen Kindesalter erblindete Joaquín Rodrigo (1901-99) ist vor allem durch ein Stück zu Weltruhm gelangt: das Concierto de Aranjuez von 1939. Obwohl Rodrigo von Hause aus Pianist war, entwickelte er ein feines Gespür für die Gitarre. Zudem passt der von Manuel de Falla und seinem Pariser Lehrer, Paul Dukas, beeinflusste Stil, der eine gelungene Verbindung von Neoklassizismus und Folklore eingeht, sehr gut zu diesem Instrument. Invocación y danza (1961) ist ein von zahlreichen Referenzen an das große Vorbild de Falla durchzogenes Solowerk. Der rhapsodischen Anrufung folgt ein schneller, flamencoartiger Tanz – und sofort zeigt Krzysztof Meisinger nicht nur, über welch phänomenale Technik er verfügt: Von extremst differenzierter Dynamik – selbst im zartesten Pianissimo klingt Meisingers Spiel einfach nur schön – über absolut perfekte Intonation, gerade auch bei Flageoletts, bis zum perkussiven Umgang mit dem Korpus beherrscht Meisinger die gesamten Möglichkeiten des Instruments in geradezu einmaliger Weise. Viel wichtiger: Er versteht ganz genau, wie man musikalische Hochspannung aufbaut und hält, wie man der Dramaturgie eines Meisterwerks gerecht wird. Dabei tritt dann Virtuosität völlig in den Hintergrund – der Hörer folgt schnell gebannt nur noch dem, was die Musik tatsächlich zu sagen hat. Hier scheint kein Vergleich zu hoch gegriffen: Wenn etwa Julian Bream die Invocación bewusst erratisch, zugleich recht unverbindlich gestaltet, irritiert dies mehr als nötig. Meisinger ist direkt in der Musik, gestaltet den langen Anlauf zum eigentlichen Tanz in jedem Detail mit Hingabe und Emotion. Generell lässt er sich bei langsamen Abschnitten Zeit, ohne zu ermüden, weiß auch im Studio, wie lang man den Nachhall wirken lassen muss.
Noch grandioser gelingen die drei Sätze von Rodrigos Elogio de la guitarra (1971), seinem vielleicht besten Werk für das Instrument, das mit Schwierigkeiten nur so gespickt ist – fast eine kleine Enzyklopädie des Gitarrenspiels. Miguel Llobet [Solés] (1878-1938) stellt das einflussreichste Bindeglied zwischen Francisco Tárrega und der Generation von Andrés Segovia dar, der kurz Llobets Schüler war. Seine Variationen über ein Thema von Altmeister Fernando Sor geben sich klassisch: Die zehn so entstandenen Miniaturen verlangen vom Interpreten, den jeweils richtigen Charakter auf den Punkt zu treffen – kein Problem für Meisinger, dessen Fingerfertigkeit (Var. 7!) verblüffend ist.
Der meistunterschätzte italienische Komponist des 20. Jahrhunderts war wohl Mario Castelnuovo-Tedesco (1895-1968): Grund dafür dürfte weniger die Emigration – er floh als Jude 1939 in die USA – sein, als bereits die Zurückhaltung gegenüber dem Faschismus in seinem Heimatland. Als Filmkomponist äußerst erfolgreich – und Lehrer u.a. von Henry Mancini –, beginnt man erst aktuell, ihn als klassischen Tonkünstler wiederzuentdecken. Für Gitarre hat der Italiener erstaunlich viel geschrieben – etwa eine Folge von 24 Präludien und Fugen als Hommage an Bachs Wohltemperiertes Clavier für Gitarrenduo. Für Segovia gedacht war sein Capriccio diabolico (Omaggio a Paganini) von 1934. Wer jetzt einen lauten, nervösen Knaller à la Liszt erwartet, liegt völlig falsch: Wir hören ein eher leises, phantastisches, nur unterschwellig auch bedrohliches Stück voller faszinierender Vielschichtigkeit und innerer Konflikte – für den Rezensenten der Höhepunkt der Veröffentlichung.
Zum Schluss dann die einzige Originalkomposition für Gitarre – wohltuend neben der Schwemme an nicht immer gelungenen Bearbeitungen – des argentinischen Tango-Erneuerers Astor Piazzolla (1921-92), der dieses Jahr natürlich nicht fehlen darf. Die Cinco Piezas (veröffentlicht 1981) sind ebenfalls durchwegs verhalten – und hier übertreibt Meisinger die Tristesse ein wenig: Die Stücke Nr. 2 und 4 (Romántico bzw. Tristón) geraten fast unerträglich langsam. Unglaublich, dass der Spannungsbogen dennoch nicht reißt, aber das erscheint schlicht zu überdehnt. Insgesamt für den keineswegs allzu gitarrenaffinen Rezensenten die gelungenste Soloveröffentlichung seit langem. Zur überragenden musikalischen Qualität der Darbietung kommt eine mal wirklich exzellente Aufnahmetechnik, die vor allem das enorme dynamische Spektrum von Meisingers Spiel adäquat abbildet, dabei räumlich und natürlich klingt – dafür gibt’s ein Extralob. Das Booklet informiert – auch auf Deutsch – umfassend über das klug zusammengestellte Repertoire. Stimmiger kann sich ein Album, das man gern immer wieder anhören möchte, nicht präsentieren.
Martin Blaumeiser, 17.12.2021
More than a Myth
Chamber Music & Songs by Engelbert Humperdinck
Hänssler Classic
HC 21022
Wenn von Engelbert Humperdinck die Rede ist, denken die meisten an die Märchenoper „Hänsel und Gretel“, die ihn berühmt machte und dann vielleicht noch an das zweite bedeutende Bühnenwerk „Königskinder“. Viel mehr allerdings ist von ihm nicht bekannt, und auch die Diskografie ist überschaubar. Deshalb kommt eine CD mit Kammermusik und Liedern, darunter sogar einige Weltersteinspielungen, die beim Label hänssler classic anlässlich des 100. Todestages des Komponisten am 27. September 2021 erschienen ist, gerade recht. „More Than a Myth“ ist der rätselhafte und aus unerfindlichen Gründen englische Titel.
Dahinter verbirgt sich eine Kollektion von Werken, die mehrheitlich aus Humperdincks Frühphase stammen. Als Student nimmt er regelmäßig an Hausmusikabenden teil, die der Geige spielende Jurist Johannes Degen veranstaltet. Für diesen Rahmen entstehen Kammermusiken in verschiedenen Besetzungen; das erste ist ein klassisch geprägtes Menuett für Streichquintett aus dem Jahr 1872, unter den weiteren befinden sich eine zweisätzige Sonate für Klavier und Violine und ein träumerisches, wie hingetupftes Notturno. Es sind Fingerübungen auf dem Weg zum eigenen Stil, die auch für Gelegenheitsmusiker geeignet sind, ähnlich wie die ebenfalls eingespielten, gefälligen Salonstücke. Gewichtiger ist das für sieben Instrumente harmonisch geschickt eingerichtete Vorspiel zu „Tristan und Isolde“, Humperdincks erste kompositorische Auseinandersetzung mit dem von ihm verehrten Wagner, der ihn als Assistenten bei der Bayreuther Einstudierung von Parsifal verpflichten wird.
Den Preziosen begegnet das achtköpfige Kammerensemble, angeführt vom Geiger Thomas Probst und der Pianistin Elenora Pertz, mit Ernsthaftigkeit und Kompetenz. Durch die Feinheit des Zusammenspiels, der ausgewogenen Balance und klanglichen Kultur verhelfen die Musizierenden ihnen zu schöner Wirkung.
Zwischen die Instrumentalwerke eingestreut, sind eine Handvoll Lieder, von denen drei in Anlehnung an die damalige Praxis in Bearbeitung für Streicher erklingen. Der weißrussische Bariton Nikolay Borchev singt sie mit klangvoller Stimme und beispielhafter Artikulation, nur bisweilen opernhafter als angebracht bei diesen Vokalstücken mit ihrem volkstümlichen Charakter.
„More Than a Myth“ hat wenig Mythisches an sich, sondern verbreitet das Fluidum einer in deutschen Traditionen verwurzelten Musik-Soirée zu Ehren Humperdincks. Das verschafft der Aufnahme ihren besonderen Reiz und gibt ihr einen sympathischen, nostalgischen Anstrich.
Karin Coper
Duo Praxedis
Piazzolla
Ars Produktion
ARS 38 592
Schon wieder eine CD mit Bearbeitungen von Musik des Argentiniers Astor Piazzolla (1921-1992), dessen Zentenarium wir dieses Jahr feiern? Erstens handelt es sich bei dem neuen, schlicht mit „Piazzolla“ betitelten Album von Ars Produktion um eine Doppel-CD mit über 100 Minuten Spielzeit, zweitens ist die Besetzung mit Harfe & Klavier dann doch exquisit – obwohl das schweizerische Mutter-Tochter-Duo (Praxedis Hug-Rütti und Praxedis Geneviève Hug) damit bereits seine zwölfte Veröffentlichung vorlegt. Und drittens – so viel sei schon mal vorweggenommen – ist die Qualität dieser Einspielung auf einem Niveau, das sich von vielen Gelegenheits-Piazzollas auf beeindruckende Weise abhebt.
Piazzolla ging einen arg gewundenen Weg vom und zum Tango – sehr gut im Booklet geschildert – bis zur Begründung des „Tango Nuevo“. Die klassische Ausbildung war immer Grundlage seines Schaffens: Noch keine zwanzig, bekam er bereits Unterricht bei Alberto Ginastera, dem bis heute unstrittig bedeutendsten argentinischen Komponisten; 1954 ging er nach Paris zu Nadia Boulanger, die prägende Lehrgestalt für fast zwei Generationen vor allem amerikanischer Komponisten. Sie war es auch, die erkannte, dass der Tango Piazzollas eigentliche Berufung werden musste.
Das Duo Praxedis hat die Besetzung Harfe plus Klavier – mit vielen Originalkompositionen aus der Epoche der Pariser Salons, wo sie enorm populär war – wieder ins musikalische Gedächtnis gerufen. Für die Tango-Bearbeitungen konnten sie nun keinen Geringeren gewinnen als Pablo Ziegler, den langjährigen Wegbegleiter Piazzollas und Pianisten seines zweiten Quintetts. Allein das bürgt bereits für eine gewisse Authentizität, stellt sich aber sogar als absoluter Glücksfall heraus: Sofort wird klar, wie kongenial Zieglers Fassungen sind. Nicht nur, dass ihm stets gelingt, eine genau auf dieses Duo abgestimmte klangliche Hüllkurve zu schaffen: Die Kombination der beiden Instrumente verschmilzt zu einem einzigen Organismus, was freilich ohnedies am perfekten Zusammenspiel der Musikerinnen liegt, das zudem grandios von der Tontechnik eingefangen wird – mit optimal dosiertem Hall. Vor allem versucht Ziegler nicht, größere Besetzungen wie das tangotypische Sextett nur transkribierend herunterzubrechen, im Gegenteil: Seine Bearbeitungen bzw. die konkrete Realisierung des Duos Praxedis sind über Strecken „bare bones“. Jede überflüssige Begleitornamentik wird vermieden, die Darbietung gerät quasi zum Konzentrat von Piazzollas differenzierter Ausdruckswelt.
Natürlich sind die Rollen zwischen Klavier und Harfe gerecht verteilt: Jede Spielerin steht mal für ein paar Momente im Vordergrund oder aber unterstützt durch ihre individuelle Farbe das jeweils andere Instrument; dabei überwiegt meistens ein Gefühl flexibelster Einheit. Perkussive Elemente finden sich sowohl in der Harfe als auch im Klavier. Seltener wird mal auf Holz geklopft oder man hört Imitationen nächtlicher Tierwelt („Buenos Aires Hora Cero“). Insgesamt ist hier alles kammermusikalischer, viel intimer als bei üblichen Bearbeitungen der Musik des großen Argentiniers. Trotz der mannigfaltigen Einflüsse, die Piazzolla aufgriff – von der Moderne vor dem zweiten Weltkrieg über Progressive Jazz bis zu elektroakustischem Instrumentarium –, ist dies eben klassische Musik, Transformation von Tanzformen auf eine höhere künstlerische Stufe, und wird vom Duo Praxedis genau als solche verstanden. Das nivelliert keineswegs deren Emotionalität: Leidenschaft, Erotik, Romantik, ebenso eine gewisse Heftigkeit, zugleich immer mit einem Hauch von Melancholie bzw. Nostalgie – all dies bleibt erfahrbar, jedoch höchst kontrolliert.
Die längeren Stücke – der ursprünglich für Cello und Klavier geschriebene „Grand Tango“ und die „Suite Porteña de Ballet“ – erreichen so mühelos die Höhe der großen Walzerfolgen von Johann Strauß. Selbstverständlich dürfen auch die echten „Hits“ Piazzollas nicht fehlen – etwa der „Libertango“ oder „Adios Nonino“. Obwohl Tangos in aller Regel ein recht langsames Grundtempo haben, ist das Programm äußerst abwechslungsreich – schon dadurch, dass hier die Taktart nicht festgelegt ist: es gibt sowohl 4/8, 2/4 wie 3/4-Rhythmen. Und ebenso kann es mal sehr flott und virtuos zugehen wie in „Tangata“ (Tango + Toccata).
Einziger Kritikpunkt: Man hat sicher absichtsvoll die Stücke auf den CDs fast ohne Pausen aneinandergereiht, wie man es von manchem Jazz- oder Konzeptalbum her kennt. Nach Meinung des Rezensenten ein Fehler: Jeder einzelne Track ist künstlerisch so gehaltvoll und raffiniert, dass ein schlichtes „Durchhören“ – wie, wenn man eine komplette Pralinenschachtel auf einmal verdrückt – eher den Genuss verflachen lässt. Man sollte eher diese musikalischen Perlen einzeln mehrfach hintereinander abspielen – und wird dabei stets Neues entdecken. Großartig!
Martin Blaumeiser, 28.8.2021
Marlo Thinnes
Beethoven, Liszt, Viñes, Fauré, Ravel
Telos
TLS253
In Corona-Zeiten, wo reproduzierende Künstler nicht ihrem normalen Konzertieren nachgehen konnten, besinnt sich so mancher auf den Wunsch nach Repertoire, dem man bislang nur auf Seitenwegen begegnet sein mochte, aber nie die Zeit hatte, sich damit intensiver auseinanderzusetzen. So erging es auch Marlo Thinnes, der vor einem halben Jahr mit einer bemerkenswerten Box aller Beethoven-Violinsonaten zusammen mit Ingolf Turban höchstes Lob einsammeln konnte und damit bereits für den Opus Klassik nominiert wurde. Nun hat er ein auf den ersten Blick etwas heterogenes Programm auf einer neuen Solo-CD vorgelegt; im Zentrum steht dabei Liszts großartige Transkription von Beethovens zweiter Symphonie.
Im Gegensatz zu den im 19. Jahrhundert allgegenwärtigen Bearbeitungen symphonischer Werke für Klavier vierhändig oder – seltener – für zwei Klaviere, die oft nicht die Qualitäten etwa von Brahms‘ eigenhändigen Transkriptionen besitzen, sind Liszts zweihändige Versionen der Beethoven-Symphonien eine ganz andere Herausforderung: Der Komponist hat sich über Jahrzehnte mit diesen Übertragungen beschäftigt und wollte hier durchaus keine Shownummern produzieren, sondern ganz ernsthafte „Übersetzungen“ sowohl des Orchesterklangs als auch des dahinter stehenden, musikalischen Geistes Beethovens auf den Flügel. Gerade in Beethovens Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36 gelingt dies Liszt tatsächlich kongenial; trotzdem erfordert dies weit mehr als nur einen technisch souveränen Pianisten, der sich durch den beachtlichen Notendschungel zu fressen vermag. Die Kenntnis und Verinnerlichung der originalen Orchesterpartitur ist absolute Voraussetzung, bevor man sich an diese Tour de force wagen darf. Dafür hat der in Saarbrücken u.a. bei Robert Leonardy und dem Cortot-Schüler Jean Micault ausgebildete Marlo Thinnes ganz sicher gesorgt.
Nicht jedermanns Sache ist der von Thinnes – wie bei den Violinsonaten – gewählte Flügel von Shigeru Kawai. Zunächst scheint dieses Instrument in der Mittellage ein wenig vom Obertonreichtum mancher Hammerflügel der 1820er Jahre auf ein modernes Instrument herüberzuretten; beim genaueren Hinhören ist dies vielleicht aber auch nur ein eher unkontrollierbares Scheppern. Trotzdem passt dieser Sound zu Beethoven/Liszt – und diesmal gelingt es den Tontechnikern, den spezifischen Klang dynamisch adäquat einzufangen. Hatte dem Rezensenten bei den Violinsonaten eine gewisse Rigorosität von Thinnes Spiel gefallen, erweist der Pianist sich nun zusätzlich als enorm flexibel – sowohl in der klanglichen als auch in der agogischen Detailarbeit. Vergleicht man Thinnes‘ Darbietung mit der über Jahrzehnte maßstabsetzenden Einspielung von Cyprien Katsaris (Teldec), so fällt auf, dass dieser zwar technisch noch ein wenig präziser und brillanter agiert, aber die Musik – besonders im Kopfsatz – fast ein wenig steif und unterkühlt daherkommt. Thinnes schafft es, bestimmte Einschwingvorgänge eines Symphonieorchesters atmend genau nachzuvollziehen (Rubato wäre hier weit übertrieben!), wo Katsaris immer nur schlicht nach Klavier klingt. Und die farblichen Abstufungen – schon in der langsamen Einleitung, noch mehr im geradezu himmlischen Larghetto – erzeugen eine perfektere Illusion einzelner Instrumentengruppen. Durch Thinnes‘ nun nicht mehr zurückhaltende Pedalisierung wird darüber hinaus auch die Periodizität und somit Beethovens Formverlauf mit dessen typischem, zielgerichteten Drang nach vorne deutlich. Schade, dass Liszt in der Coda des ersten Satzes für die markante, harmonische Teufelsmühle (T. 326 ff.) die rechte Hand nur mit Tremoli beschäftigt und dieser Moment so zur Nebensache wird. Im schnellen, hier erstmals ausdrücklich so bezeichneten Scherzo bleibt immer erkennbar, wo Hörner in der Partitur stehen und im Finale überrascht Marlo Thinnes mit schon romantischer Wärme; eine wirklich überzeugende Interpretation, die jede Sekunde spannend bleibt und die sorgfältige Umsetzung Liszts voll zur Geltung bringt.
Die zweite Hälfte der CD scheint nun bewusst eine totale Abwechslung bieten zu wollen: Liszts Umarbeitung eines eigenen Liedes zur selten zu hörenden Klavierelegie Die Zelle in Nonnenwerth zeigt natürlich eine andere Seite des Meisters, wo Form und Emotion scheinbar fast improvisatorisch zueinander finden, fabelhaft differenziert vorgetragen. Der Rest dreht sich dann um den in seiner Generation führenden Vertreter der sogenannten Katalanischen Pianistenschule, Ricardo Viñes, hierzulande eigentlich nur als Uraufführungsinterpret zahlreicher bedeutender Klavierwerke von Debussy und Ravel bekannt. Um in die Riege sogenannter Composer-Pianists wie Godowsky, Busoni, Rachmaninow etc. aufgenommen zu werden, ist sein kompositorisches Schaffen viel zu schmal – und die von Thinnes vorgestellten Cuatro homenajes gibt es auch schon in mehreren Einspielungen. Die ersten beiden Hommagen richten sich an Ravel und Fauré, so dass Thinnes zunächst zwei bekannte Virtuosenstücke eben dieser beiden Franzosen aufs Programm gesetzt hat. Ravels Jeux d’eau – Fauré gewidmet und von Viñes aus der Taufe gehoben – gerät etwas zu streng im Tempo, könnte verspielter sein, ist jedoch zumindest klanglich schön ausgearbeitet; Martha Argerich bleibt da noch immer unerreicht.
Bei Faurés Valse-Caprice No. 1 interessiert sich Thinnes weniger für die unmittelbare, äußere Wirkung, wie z.B. Kathryn Stott oder Jean-Philippe Collard, sondern kostet die zahlreichen Tempomodifikationen genüsslich aus, so dass eine große Spannweite des Ausdrucks – von zögerlich naiv über kokett bis auftrumpfend – hörbar wird; sehr klug beim nicht mehr ganz jungen Fauré, der ja nach einer Phase jugendlichen Überschwangs immer in sich gekehrter komponierte.
Viñes‘ Hommagen entpuppen sich leider als ziemliche Langweiler – vor allem rhythmisch fällt dem Katalanen in drei der vier Stücke kaum je etwas anderes ein als das ständige Muster zwei Achtel plus Viertel: nicht ein schlichter Anapäst, da auf allen möglichen Zählzeiten verwendet, aber doch in dieser Häufung rasch ermüdend. Für die zweite Hälfte der 1920er ist dies eine rückwärtsgewandte, hemmungslos nostalgische Musik mit teilweise hübschen impressionistischen Farben – in der Thrénodie für Erik Satie auch mal mit ein paar schrägen kleinen Nonen –, aber letztlich belanglos. Marlo Thinnes lässt den Stücken dennoch den nötigen Respekt zukommen, liefert einen glasklar durchhörbaren Klaviersatz ohne falsche Sentimentalität ab; mehr kann man hier nicht leisten.
Man muss sich natürlich fragen, warum der Pianist nicht einfach eine zweite Beethoven-Symphonie in Lisztscher Bearbeitung auf CD gebannt hat – die sechste hat er jedenfalls bereits öffentlich gespielt. Die Liner Notes von Thinnes selbst sind kenntnisreich und lesenswert, geben aber nicht wirklich eine Antwort. So haben wir immerhin eine Art facettenreiches Konzertprogramm, das musikalisch wieder auf höchstem Niveau angesiedelt ist und durch sehr individuelle, klangliche Vorlieben fasziniert.
Martin Blaumeiser
Louise Chisson · Tamara Atschba
20th Century Feminine
Hänssler CLASSIC
HC20044
„20th Century Feminine“ heißt diese in jeder Hinsicht aufregende CD, nicht etwa „20th Century Female Composers“– und man(n) beachte den Akzent, der damit gesetzt ist. Inwieweit es sich bei diesen hier zu hörenden vier Werken von vier Komponistinnen aus vier Ländern um genuin „feminine Musik“ handelt, kann und soll hier (im Sinne der Gender-Thematik) nicht diskutiert werden. Tatsache ist aber: in der Riege der Aufnahmen mit Musik von Komponistinnen nimmt diese CD einen besonderen Platz ein. Man ist versucht, von einem Konzept-Album zu sprechen, zumal Louise Chissons und Tamara Atschbas „Reise“ von Frankreich (Lili Boulanger) über Polen (Grażyna Bacewicz) und Russland (Galina Ustwolskaja) in die USA (Jennifer Higdon) einem ausgeklügelten Plan folgt. Es empfiehlt sich tatsächlich, die vier Stücke in der vom Album vorgegebenen Reihe zu hören, nicht zuletzt deshalb, weil die chronologische Abfolge hier Sinn macht. Die zum Auftakt erklingenden Stücke von Boulanger wurzeln in der Spätromantik sowie im französischen Impressionismus. Die Farben, Düfte und Stimmungen dieser verführerischen Musik treffen die Interpretinnen punktgenau, vor allem das „Nocturne“ – eines der schönsten, das je geschrieben wurde! – erblüht unter ihren Händen wie eine schwer duftende Nachtblume. Ganz anders dann die 4. Violinsonate von Bacewicz von 1949 (rev. 1952). Von den insgesamt fünf Violinsonaten, die die Polin zwischen 1945 und 1951 schrieb, ist die Vierte aufgrund ihrer Stringenz und formalen Meisterschaft besonders hervorzuheben. Auf eine sehr eigenständige Weise huldigt die Sonate dem französischen Neoklassizismus, der hier aber gleichsam durch eine genuin polnische „Brille“ betrachtet wird. Chisson und Atschba sind auch in diesem Idiom „zuhause“ und zeigen Poesie und „Pranke“ gleichermaßen. Von den (mir bekannten) Einspielungen des Werks ist dies die schlüssigste und fesselndste. Mit der dann folgenden Violinsonate von Ustwolskaja aus dem Jahr 1952 haben sich die Interpretinnen eines der rabiatesten und dornigsten Werke vorgeknöpft, die je für dieses Genre geschrieben wurden. Im Unterschied zu den wirklich komplett ausweglosen Klaviersonaten der Schostakowitsch-Schülerin ist die Violinsonate – vielleicht aufgrund ihrer dialogischen Struktur – vergleichsweise moderat, vor allem in der ersten Hälfte des Werks. Und es spricht für die Meisterschaft von Chisson/Atschba, dass die beiden nicht nur die Härten und Aporien der Sonate schonungslos artikulieren, sondern auch ihrer „negativen Poesie“ eine Stimme zu geben vermögen. Die fünfsätzige Komposition „String Poetic“ von Jennifer Higdon, mit der die Reise endet, wirkt dagegen regelrecht postmodern – der Kontrast könnte größer kaum sein. Mit postmoderner „Beliebigkeit“ hat die äußerst schlüssige Suite, die auch „Strong Poetic“ heißen könnte, aber nichts im Sinn. Fast unnötig zu sagen, dass Chisson und Atschba auch der US-amerikanischen Musik-„Sprache“ eine starke Stimme zu geben vermögen. Dem bestens miteinander harmonierenden Damen-Duo ist ein ebenso herausragendes wie wichtiges Album gelungen.
Burkhard Schäfer